Das Projekt, dass wir in Tegucigalpa, der Hauptstadt Honduras‘, kennenlernten, hat uns so sehr beeindruckt, dass wir ihm einen eigenen Blogeintrag widmen wollen: AFE (Amor, Fe, Esperanza: Glaube, Treue, Hoffnung), ursprünglich eine Schule, die auf der örtlichen Müllhalde Tegucigalpas entstanden ist, und mittlerweile zu einem Projekt herangewachsen ist, das ganzheitlich die Lebensbedingungen der Menschen auf der Müllhalde verbessert.
Am Rande der Stadt Tegucigalpa, die als eine der gefährlichsten Städte Zentralamerikas gilt durch Bandenkriege, Kleinkriminalität und Drogen, leben über 1000 Erwachsene und 300 Kinder auf einem Berg, der nicht natürlich entstanden, sondern über Jahre gewachsen ist und täglich aufgrund neuer Müllladungen weiter wächst.
Es ist eine Sache, Dokumentationen zu sehen oder Geschichten zu hören von Menschen, die auf Müllhalden leben und Brauchbares zum Verkaufen oder zum Essen suchen, aber eine ganz andere, mit eigenen Augen zu sehen wie diese Menschen ihr tägliches Leben verbringen.
Die Luft stinkt so sehr dass man kaum atmen mag, die Menschen waten durch den Müll und stochern in Abfällen herum; ein Chaos von Menschen, Hunden und Vögeln, die um Pommesreste und Hühnchenknochen streiten. Zusammengesuchte Papp- oder Plastikhaufen sind ein Beweis dafür, dass ein System hinter dem vermeintlichen Durcheinander existiert, Menschen organisiert zusammenarbeiten. Organisiert wird alles von der hier Herrschenden mara, wie die Gangs in Honduras genannt werden: Die mareros wissen genau, wer auf der Müllhalde lebt, zu den sog. basureros (wörtl. übersetzt: Müllmenschen)gehört, seine Abgaben an die Gang leistet. Fremde wagen sich hier gar nicht her, und auch wir werden nur geduldet weil wir mit Pastor Jeony gekommen sind, der selbst bei den mareros Respekt und Anerkennung geniesst.
Jeony ist ein honduranischer Pastor, der die Schule auf der Müllhalde gemeinsam mit seiner Frau Jesy gegründet hat. Er erklärt uns, wie das System auf dem Müllberg funktioniert: Mehrere Familien oder Personen suchen jeden Tag als eine Art „Kooperative“ bestimmte Abfallprodukte, einen Tag Pappe, einen Tag Plastik, und jeden Tag Essensreste. Die Menschen auf der Müllhalde befinden sich sozusagen am äußersten Rand der Gesellschaft. Zwischenhändler, die auch am Existenzminimum knapsen, aber wenigstens nicht im Müll der Reichen herumwaten müssen, kaufen die gesammelten Papp- oder Plastikhaufen von den basureros ab und reinigen sie, um sie dann an weitere Recyclingfirmen weiterzuverkaufen. Einige der basureros schlafen sogar auf der Müllhalde, verlassen sie niemals. Andere wohnen so weit weg, dass sie sich den täglichen Transport nicht leisten können, von Montag bis Samstag auf der Müllhalde sind und nur am Wochenende zur Familie nach Hause fahren.
An einem guten Tag verdient der durchschnittliche basurero 3-4 USD. Davon muss aber eine Art „Miete“ an die auf der Müllhalde regierende Gang, die mara, bezahlt werden. Jeder muss täglich etwas an die Gang bezahlen, die die Höhe der „Miete“ willkürlich festlegen kann. Und jeder zahlt, aus Angst, ins Visier der Mara zu geraten. Doch auch trotz dieser Abgaben sind Gewalt und Totschlag nichts ungewöhnliches auf der Müllhalde. Und in dieser Umgebung wachsen die Kinder auf, um die sich Jeony und seine Frau in ihrem Projekt kümmern.
Gegründet haben die beiden AFE auf den Wunsch ihrer 5jährigen Tochter hin, die mit Jeony mehrfach zur Müllhalde gefahren war, und nicht locker lies, ihren Papa zu bitten, etwas für die Menschen vor Ort zu tun, insbesondere für die Kinder. So haben Jeony und Jesy angefangen, eine Art Schule auf der Müllhalde einzurichten, auf alten Reifen, teilweise mit auf der Müllhalde gesammeltem Papier.
Nachdem sie mehrere Monate Kontakte geknüpft hatten und Familien kennenlernten, begannen sie für die Schulidee zu werben. Am ersten Tag erschienen bereits 30 Kinder. 3 Jahre lang unterrichteten die beiden auf der Müllhalde mit enormen Zuwachs, bis die honduranische Regierung ihnen 2006 verbot, weiter auf dem Berg zu unterrichten, und sie am Fuß der Müllhalde am Rande eines Fußballfeldes ein erstes Schulgebäude errichteten. Seitdem wächst die Schule immer weiter. Sie wurde offiziell registriert und die Abschlüsse der Schüler anerkannt, und momentan befinden sich 175 Kinder der basureros in der Ausbildung. Eine beeindruckende Zahl. Beeindruckend ist auch, dass die Kinder durch AFE wirklich eine Zukunftsperspektive fernab der Müllhalde bekommen. 10 ehemalige AFE-Schüler gehen momentan sogar zur Universität!
Mittlerweile gehört zu AFE auch eine Klinik, ein Wohnprogramm, psychologische Betreuung. Und das Projekt wächst ständig weiter.
Was uns berührt hat, sind vor allem verschiedene Geschichten die Jeony und der Volontär Adam uns erzählt haben. Jeony und seine Frau mussten zu Beginn erstmal das Vertrauen der Menschen gewinnen: Da die basureros keine Besucher gewohnt sind und die mara alles kontrolliert, war das keine einfache Aufgabe. Immer wieder sind sie auf den Müllplatz gefahren um einfach nur mit Leuten zu sprechen, Gesichter, Namen, Familien kennenzulernen. Immer brachten sie irgendetwas mit, Kleidung, Nahrungsmittel. Und mittlerweile sind sie keine Fremden, Eindringlinge im Mikrokosmos der Halde mehr, sondern gern gesehene Gäste.
So beschreibt Johnny zum Beispiel wie er frühmorgens auf die Müllhalde kam und gerade einige Familien alles Mögliche zum gemeinsamen Frühstück zusammengetragen hatten, sprich Pommesreste aus alten Tüten, Knochen mit noch einigen Fasern Fleisch dran, angeschimmelte Orangen. Und so wurde Johnny dann auch zum Frühstück eingeladen und hat gemeinsam mit den Menschen vor Ort gegessen, obwohl es ihn sehr viel Überwindung gekostet hat. Es ging um Respekt, gegenseitige Anerkennung und Würde. Er hätte die Einladung niemals abschlagen können.
Ohnehin hat uns die psychologische Sensibilität und Empathie von AFE und seinen Mitarbeitern sehr beeindruckt. In vielen Geschichten und Erzählungen und Angeboten von AFE zeigte sich,wie psychologisch durchdacht das gesamte Projekt ist. So gehört zu AFE auch eine Klinik, die von Adams Frau betrieben wird. Hier zahlen die Menschen 20 Lempira (ca. 90 Eurocent) für den Arztbesuch, anstatt wie in staatlichen Krankenhäusern umsonst behandelt zu werden. Der Preis, der in keinster Weise auch nur annähernd die Ausgaben der Klinik deckt, hat zur Folge dass die Menschen den Arztbesuch ganz anders wahrnehmen, die Behandlung wertschätzen. Außerdem ist es auch eine Frage der Würde und des Selbstwertgefühls, die 20 Lempira für die Gesundheit aufzubringen. Gleichzeitig vermeidet AFE so auch, dass zu viele Menschen mit Kleinigkeiten kommen, weil die Behandlung ja umsonst ist, oder über Schmerzen klagen und dann die Medikamente verkaufen.
Auch das Hausprogramm von AFE kostet aus eben diesen Gründen eine kleine Miete. Alle Familien, deren Kinder bei AFE registriert sind, konnten bereits in ein bereitgestelltes Häuschen umziehen: Kein großer Luxus, aber wenn man sich an die Zelte aus Plastikbahnen auf der Müllhalde erinnert für die Familien eine unfassbare Verbesserung der Lebensqualität. Das Haus geht erst in den Besitz der Familie über, wenn das jüngste Kind seine Ausbildung bei AFE abgeschlossen hat und ein Alter von 18 Jahren erreicht. So wird nicht nur sicher gestellt, dass alle Kinder bis zum Schulabschluss bei AFE bleiben und nicht wieder zum Arbeiten auf die Müllkippe geschickt werden, sondern auch ein Anreiz geschaffen, keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen.
Denn ein großes Problem der basureros ist dass die Familien sehr groß sind, es gibt kaum Geburtenkontrolle, und viele Familien können ihren 9 oder 10 Kindern einfach kein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Die Grösse der Familien liegt aber nicht nur an fehlender Aufklärung: Die Klinik von AFE betreibt Aufklärungsarbeit und bietet auch Sterilisierungen von Frauen an (Ein Sterilisierungsprogramm für Männer würde niemals angenommen werden). Es spielen vielmehr auch psychologische Gründe eine Rolle. Als Schwangere ist man in Honduras eine Person, die von allen Menschen respektiert wird. Das zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten und selbst auf der Müllhalde ist das zu spüren. Schwangere werden vorgelassen in Schlangen, bekommen in Bussen Sitze angeboten, werden nicht angegriffen, ausgeraubt oder vergewaltigt. Diesen Respekt genießen Frauen der Müllhalde nicht oft, da sie enormer Diskriminierung ausgesetzt sind und noch tiefer im Rang als die Männer der Müllhalde stehen.
Ein weiterer psychologischer Grund für das Bedürfnis vieler Frauen, schwanger zu werden, ist die Abhängigkeit der Babys von den Frauen, die ihnen das Gefühl vermittelt, gebraucht zu werden. Wichtig zu sein. Auch ein Gefühl, dass ihnen im alltäglichen Leben verwehrt wird.
Der zweitägige Besuch bei AFE und die Stunden mit den ältesten Schülern, mit denen wir über Zukunftsträume und Ziele im Leben diskutiert, Fußball gespielt und Shirts für unsere Fußballmannschaft gestaltet haben, haben uns emotional noch lange beschäftigt. Vor allem der Einsatz nicht nur von Jeony und seiner Frau, sondern auch von allen anderen Mitarbeitern bei AFE, die mit soviel Herz und Energie in dem Projekt aufgehen, ihr Leben in AFE verbringen, hat uns sehr berührt. Einfach schön sich daran zu erinnern, dass in einer so trostlosen Umgebung wie der Müllhalde Tegucigalpas ein so sinnvolles und herzliches Projekt existiert, das vielen vielen Kindern eine Zukunft ermöglicht, die sie sich nie erträumt hätten.
Box: Online Informationen unter www.afehonduras.org. Hier werden auch Möglichkeiten aufgezeigt, AFE finanziell oder aktiv als Voluntär zu unterstützen! Es existiert auch ein Dokumentarfilm über das Projekt dessen Trailer hier: www.vimeo.com zu finden ist.